Mit (Fach-)Sprache ins IChO-Team

Frederike Saal ist ein Phänomen. In der knapp 50-jährigen Wettbewerbsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ist Frederike sage und schreibe erst die siebte Schülerin, der der ein Einzug in das vierköpfige IChO-Team gelungen ist. Und das, obwohl sie nicht an einem Gymnasium mit einer Spezialisierung für Naturwissenschaften lernt, sondern an einem Landesgymnasium mit einem Schwerpunkt im sprachlichem und musikalischem Bereich - der LATINA August Hermann Francke.

Im Interview verrät Frederike, wir ihr das gelungen ist.

Von traditionellen Modellvorstellungen hält Frederike Saal nicht viel. Wenn sie auch zumindest einer Tradition gefolgt ist – einer Familientradition: die Elftklässlerin besucht – so wie ihre Schwestern – das musikalisch und sprachlich orientierte Landesgymnasium ‚Latina August Hermann Francke‘, das im 17. Jahrhundert von den Franckeschen Stiftungen in Halle als lateinische Hauptschule konzipiert wurde. Eine Schule mit Musik und Sprachen passt schon ganz gut. Russisch hat ihr immer Spaß gemacht und zu Hause spielt sie Akkordeon und Klavier.

Für ihre wahre Leidenschaft musste sie aber Abstriche machen: „Ich habe in der Oberstufe alle Sprachen bis auf Englisch abgewählt." Jetzt im Chemieleistungskurs fühlt sie sich sehr wohl und bekommt von ihrer Chemielehrerin fachlich auch große Unterstützung. Auch die organisatorische Unterstützung seitens der Schulleitung hat Frederike geholfen, die Wettbewerbszeit mit der Klausurenphase gut vereinbaren zu können.

Dass so manche Sprachlehrerin Frederike jetzt im Unterricht vermisst, kommentiert sie mit einem Augenzwinkern: „Ich habe meine Chemielehrerin damit glücklich gemacht." In Frederikes Mund sind das keine leeren Worte, wie die wiederholten Erfolge bei nationalen und internationalen MINT-Wettbewerben beweisen: ein Regionalrundensieg und ein Titel als zweitbeste theoretische Chemikerin Deutschlands beim Bundeswettbewerb Chemie – die stimmt! waren dabei nur der Anfang. Ihr neuester Coup ist der erste Platz bei der Europäischen Olympiade für Experimentelle Wissenschaft (EOES), bei dem sie für Deutschland als Teil eines dreiköpfigen Teams angetreten ist.

Doch damit nicht genug! Die frischgebackene Europameisterin hat es nun auch in das vierköpfige Team geschafft, das Deutschland 2022 bei der Internationalen ChemieOlympiade (IChO) vertreten wird. Damit ist sie gerade einmal die siebte Schülerin, die in der ‚männerdominierten‘ Olympiade die Bundesrepublik Deutschland vertritt. Wohlgemerkt: die BRD nimmt seit 1974 am Wettbewerb teil!

Was hat diesen Erfolg möglich gemacht? Sicherlich, dass Frederike schon sehr früh Chemie für sich entdeckt hat: „In der 6. Klasse hatten wir am Ende des Schuljahres eine Projektwoche und da habe ich bei Schüler experimentieren mitgemacht. Mein Team hat sich ein Projekt überlegt, mit dem wir auch in die Landesrunde gekommen sind. Dort waren dann ziemlich viele naturwissenschaftlich begeisterte Schülerinnen und Schüler. Als dann in der 7. Klasse der Chemieunterricht anfing, fand ich das auch ziemlich gut. Anfang der 8. Klasse habe ich dann das erste Mal bei Chemie – die stimmt! mitgemacht, weil mich Chemie in der Schule interessiert hat und ich es einfach mal was Neues ausprobieren wollte. Und das hat mir dann so viel Spaß gemacht, dass ich mich seit der 8. Klasse immer weiter mit Chemie auseinandergesetzt habe.“

Zudem hat die hervorragende Schülerförderung in Sachsen-Anhalt in den MINT-Fächern – von der nicht nur Schüler:innen an Spezialschulen (z.B. dem Georg-Cantor-Gymnasium Halle oder dem Werner-von-Siemens-Gymnasium Magdeburg) profitieren können - seinen Teil beigetragen: „In Sachsen-Anhalt gibt es das Landesseminar als Vorbereitung auf die 2. Runde IChO-Auswahlrunde, sowie den Vierländerwettbewerb (gemeinsam mit Sachsen, Berlin und Brandenburg) als Vorbereitung für die weiteren IChO-Auswahlrunden. In den Osterferien findet das Osterseminar als Vorbereitung auf die 4. Runde statt. Ich denke, Sachsen-Anhalt ist damit vergleichsweise gut aufgestellt." Im Zentrum dieser Förderung steht das Schülerlabor Chemie - zum Anfassen an der Hochschule Merseburg, das viele Jahre von Dr. Almut Vogt und inzwischen von Frau Dr. Eileen Bette geleitet wird und in vielen Projekten mit dem Förderverein Chemie-Olympiade e.v. (FChO) zusammenarbeitet.

Nach all der Theorie hatte sich beim Chemie - die stimmt!-Bundesfinale herausgestellt, dass Frederike vor allem noch Unterstützung beim Experimentellen gebraucht hatte. Durch den FChO ist ihr daraufhin ganz unkompliziert ein Laborpraktikum im Schülerlabor Chemie zum Anfassen vermittelt worden. „Das Laborpraktikum an der Hochschule Merseburg hat mir ebenfalls viel gebracht – und es hat mir auch viel Spaß gemacht."

Auch haben die verschiedenen Schülerwettbewerbe Frederike geholfen, stets ein Ziel vor den Augen zu haben: „Ich finde Chemie – die stimmt! und die Internationale ChemieOlympiade wirklich gut, da man so einen Anreiz hat, sich in verschiedene Themen einzuarbeiten. Nebenbei trainiert man auch das logische Denken, so dass man nicht gleich den großen Schock bekommt, wenn man eine Aufgabe sieht, von der man auf den ersten Blick noch nie etwas gehört hat. Letztendlich kann man viele allgemeine Konzepte trotzdem darauf anwenden. Dann hat man vielleicht eine schöne Idee bekommen, schlägt das eine oder andere noch einmal nach und so geht das dann weiter.“ Frederike investiert neben dem Schulunterricht viel Arbeit in die Wettbewerbsvorbereitung. Nicht ganz ohne Opfer: „Oft fehlt mir die Zeit, ein komplettes Wochenende in eine Hausaufgabe zu investieren, um dann 15 Notenpunkte zu erzielen. Um optimal auf die Wettbewerbe vorbereitet zu sein, muss ich dann leider auch mal Abstriche beim Lernen machen. Das ist jetzt nicht schön und auch nicht lobenswert. Aber anders funktioniert es oftmals nicht.“ Dass sie damit sehenden Auges auf einen hervorragenden Abiturdurchschnitt verzichtet, beunruhigt die zukünftige Chemiestudentin nicht allzu sehr: „Zum Glück ist Chemie kein Studienfach, für das ich eine 1,0 erzielen muss.“ Obwohl der Nachwuchschemikerin die Teilnahme an den Wettbewerben viel Spaß macht, sieht sie die Beschäftigung mit der Materie nicht nur als Selbstzweck: „Ich finde es immer ein bisschen schade, wie Chemie in der Gesellschaft wahrgenommen wird. Zum Beispiel, wenn ich mit Freunden über Chemie rede, dann sind die Meinungen meist erst sehr negativ. Wenn man zum Beispiel am Esstisch sitzt und jemand guckt sich die Inhaltsangaben auf den Lebensmittelverpackungen an, dann wird gesagt: ‚Ihhh, da ist ja nur Chemie drin!‘ Wo ich der Meinung bin: ‚Ja, das ist auch gut so! Alles andere wäre auch beunruhigend.‘ Und dabei finde ich total schade, dass viele Leute gar nicht sehen, dass Chemie bei so vielen Dingen und vor allem auch gesellschaftlich und politisch ziemlich wichtig ist. Und das ist für mich schon ein Ansporn, auch in der Wissenschaft etwas zu bewirken. Auch in Bezug auf den Klimawandel - und dabei vor allem bei der Energiewende - ist Chemie eine wichtige Sache. Zum Beispiel mit den carbon-reducing technologies, die derzeit diskutiert werden, mit der Entwicklung neuer Katalysatoren, oder – das ist vielleicht eher zum Bereich Physik – mit der Entwicklung der Fusionstechnik, einer nachhaltigeren Energiequelle. Das ist auf jeden Fall ein Ansporn und das sollte in der Gesellschaft auch mehr diskutiert werden. Mit dem Bild ‚Chemie ist nur Krach und stinkt und mehr nicht …‘ muss also aufgeräumt werden.“

Dass die meisten ihrer Mitschüler:innen sich nicht sonderlich für MINT interessieren, sieht Frederike vor allem in der Wahrnehmung der MINT-Fächer begründet: „Ich vermute, die Grundeinstellung der meisten Schüler:innen ist, dass die Naturwissenschaften – z.B. Physik ab Klasse 6 – von Anfang an einfach zu kompliziert sind und dass sie es ohnehin nicht verstehen würden und es darum gar nicht erst versuchen müssten. Bei mir war es tatsächlich am Anfang auch so. In der Grundschule war ich auch nicht wirklich gut und habe auch nur knapp die Aufnahmeprüfung an der Latina geschafft. Dann war auch meine Einstellung bei Mathe und Physik am Anfang nach dem Motto: ‚Ja, alle anderen sagen, das ist schwer, also brauche ich es überhaupt gar nicht erst versuchen.‘ Erst später, z.B. durch Schüler experimentieren und den Chemieunterricht, kam es dann anders.

Eines ist ganz sicher: Frederike brennt für die Chemie! Welches Thema sie eines Tages vertiefen möchte, weiß sie dagegen noch nicht; da will sie sich noch nicht festlegen: „Wenn das Abi geschafft ist, möchte ich gerne Chemie studieren. Speziellere Pläne habe ich noch nicht. Ich habe auch schon von vielen gehört, dass die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft nicht so gut sind. Trotzdem fehlt mir noch jede Menge Input, um sagen zu können, was mir jetzt eigentlich so am besten gefällt und was mich am meisten interessiert. Und deshalb ist jetzt der Fahrplan, erst einmal Chemie zu studieren – gerne in Leipzig.“

Damit Frederike schon einmal in Studium und Forschung "reinschnuppern" kann, hat ihr Jan Rossa, Wettbewerbsleiter von Chemie - die stimmt!, ein Forschungsprojekt an der Universität Leipzig vermittelt: diesen Sommer beginnt Frederike in der Arbeitsgruppe von Juniorprofessorin Christina Lammers ein selbst gewähltes Forschungsprojekt. Einerseits soll sie dabei unter einer weiblichen Mentorin das wissenschaftliche Arbeiten kennenlernen. Zudem ist auch angedacht, das Projekt bei Jugend Forscht einzureichen.

Zunächst gilt es aber, die Teilnahme an der Internationalen ChemieOlympiade zu meistern, die coronabedingt leider auch dieses Jahr virtuell durch das Gastgeberland China ausgetragen wird. Wir drücken Frederike alle Daumen, dass sie bei ihrem ersten ‚Probelauf‘ hervorragend abschneidet und sind optimistisch, dass ihr auch im nächsten Jahr die Teilnahme an der IChO gelingt – dann hoffentlich in Präsenz in Zürich!